Mehr als nur Bären und Wölfe – in der nordeuropäischen Provinz gibt es viel zu entdecken
Wir schreiben bei Feingold Research in der Regel über Wirtschaft, Börse und Investmentideen. Hintergründe zur Entwicklung eines Landes erfährt man aber oft auch vor Ort. Daher wollen wir interessante Reiseberichte des befreundeten Journalisten Edgar Schafer zu zwei unbekannteren Gegenden in Russland und Finnland vorstellen. Ein Lesevergnügen in zwei Teilen.
In Russland gibt es noch wahre Oldtimer. Verwundert mustere ich seinen Lada, als mich Vladimir damit am Flughafen in Sankt Petersburg abholt. Er bemerkt meinen erstaunten Blick und sagt: „Baujahr 1979, aber noch gut in Schuss.“ Sicherheitsgurte hat das Fahrzeug immerhin – vorne und hinten. Bei den hinteren funktioniert jedoch das Schloss nicht. „Egal“, meint Vladimir „hinten braucht man die sowieso nicht. Hauptsache vorne funktionieren sie“. Ich nicke in dem schicksalsergebenen Wissen, dass ich bei einem Unfall wohl schwer verletzt würde, aber rede mir ein, dass schon nichts passieren wird. Ich verdränge dabei, dass die Unfallzahlen in Russland um ein Vielfaches höher als in Deutschland sind. Gilt doch auf russischen Straßen das Recht des Stärkeren.
Die Bundesstraße von Sankt Petersburg ins 180 km entfernte Tichwin, das wir ansteuern, ist dann zu meiner Überraschung in einem hervorragenden Zustand und gut befahrbar. Die Regierung unter Präsident Wladimir Putin hat in den vergangenen Jahren viel Geld in die Infrastruktur gesteckt, was nicht zu übersehen ist. Die Überlandstraßen sind meist in einem guten Zustand. Für die Städte in der Provinz trifft das weniger zu.
Zeit scheint stehen geblieben zu sein
Tichwin hat den Charme einer postsozialistischen Stadt. Seit der Breschnew-Zeit scheint hier die Zeit stehengeblieben zu sein. Platten- und Betonbauten prägen das Bild. Der Fluß Tichvinka, Namensgeber des Ortes, zerschneidet die Stadt. Bekannt ist die 58.000-Einwohner-Stadt vor allem wegen des Tichwiner orthodoxen Gottesmutterklosters. Das erhielt 2004 die „Tichvinskaja“, die Ikone der Gottesmutter zurück. Die war in den Wirren des 2. Weltkriegs im Jahr 1944 über das Baltikum schließlich bei einem orthodoxen Priester in Chicago gelandet. Sie gehört zu den am meisten verehrten Heiligenbildern Russlands und steht auf einer Stufe mit den Ikonen der Gottesmutter von Smolensk, von Kasan und von Wladimir.
An Wunder glauben
Der „Tichvinskaja“ werden Wunderdinge nachgesagt. Im Mittelalter soll sie der Legende nach mehrmals eine Übermacht schwedischer Angreifer vertrieben haben. Heute betet man vor ihr vor allem für die Gesundheit der Kinder und für die Heilung von deren Krankheiten. Das Besondere an ihr ist jedoch, dass sie die einzige der wichtigen Ikonen ist, die sich in Russland befindet. Von den anderen sind zwei verschollen und die Kasaner Ikone wird in Jerusalem aufbewahrt. Kein Wunder also, dass Präsident Putin bei der Rückführung der Ikone aus Chicago im Juni 2004 höchstpersönlich zusammen mit anderen Honoratioren des Landes anwesend war, darunter auch Alexi II, Patriarch der russisch-orthodoxen Kirche.
Vassily, der mich durch das Kloster führt, zeigt mir stolz den Platz vor dem Kloster, auf dem der Hubschrauber gelandet ist, in dem Putin saß. Das Männerkloster profitierte von dem Ereignis. Es erhielt vorher und danach Gelder vom Staat und der Kirche, um es zu renovieren. Etwa 40 Mönche leben noch dort. Das Frauenkloster ist dagegen bisher nicht renoviert. Das dafür versprochene Geld kommt nur tröpfchenweise. „Die Renovierung wird sich noch ewig hinziehen, wenn es in dem Tempo weitergeht“, meint Vassily. Während meiner Anwesenheit ist der Todestag der Zarenfamilie, die am 16. Juli 1918 von den Bolschewiken erschossen wurde. In der Klosterkirche ist ein Bild der Zarenfamilie aufgestellt, für die am Todestag eine Messe gelesen wird. Die Verbindung der orthodoxen Kirche mit dem Zar und seiner Familie wird bis heute hochgehalten.
Die Jungen gehen
Obwohl Putin den orthodoxen Glauben fördert und seit einigen Jahren eng mit der Kirche verbandelt ist, hat diese ähnlich wie in Westeuropa Nachwuchssorgen. Im Frauenkloster wohnen nur noch vier Nonnen. Neben den Klöstern hat Tichwin noch weitere Touristenattraktionen aufzuweisen. Das Haus des berühmten Komponisten Rimski-Korsakow und ein Viertel mit gut erhaltenen Holzhäusern. Lange Zeit war die Stadt das Zentrum der russischen Holzindustrie. Die Hoffnung, dass sich der Tourismus in Tichwin nach der Rückführung der Ikone 2004 stark beleben würde, erfüllten sich jedoch nicht. Außer wenigen religiösen Tagestouristen verliert sich kaum jemand in der Provinzstadt.
Die Stadt ist nach der Wende von 78.500 auf 58.500 Einwohner geschrumpft. „Die Jungen gehen nach Sankt Petersburg“, sagt Vassily. Dazu zählen auch sein Sohn und seine Tochter. „Hier gibt es keine Arbeit“, klagt er. In den siebziger und achtziger Jahren schnellte die Einwohnerzahl hoch, weil ein großes Traktorenwerk allein 18.000 Arbeitskräfte beschäftigte. Nach dem Ende des Kommunismus schrumpfte das deutlich, und neue Industrien konnten kaum etabliert werden. Größter Arbeitgeber ist nun ein Güterwagenwerk mit Sitz in Sankt Petersburg, in dem knapp 10.000 Waggone hergestellt werden. Von Tichwin nach Sankt Petersburg sind es mit dem Bus nur drei Stunden. Von dort fahren regelmäßig komfortable IC-Züge nach Helsinki – über Lahti. In 2,5 Stunden erreicht der Reisende von dem früheren Leningrad aus Lahti. Die aufregende Zeit in Lahti folgt dann im zweiten Teil. Von Edgar Schafer
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